Leseprobe:

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Diese Arbeit soll zeigen, dass der Einfluss des Islam bis heute stark überschätzt, das Wirken der Klöster als Werte- und Kulturvermittler, nicht zuletzt im ländlichen Raum, sowie natürlich auch der Juden im Vergleich zum Königtum, Fürstentum und Adel als Träger der Herrschaftsgeschichte sowie zum sog. aufsteigenden Bürgertum der Städte und Märkte erheblich unterschätzt worden ist.

Umfangreiche Forschungen im Bereich der Sozial- und Wirtschafts- wie auch der Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, und zwar weit über Deutschland hinaus, brachten mich zunehmend auf den Gedanken, dass bestimmte Sachverhalte nicht zusammenpassten. Mir wurde dann immer mehr klar, dass nur die Juden mit ihrer großen inter- und supranationalen Tradition in der Lage waren, umfassende kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang zu setzen und voranzutreiben. Diese Gedanken trug ich ein Leben lang in mir, bis ich auf die Werke von Davidson, Eisler und Landau gestoßen bin.

Vor allem die wegweisenden Arbeiten von Davidson verstärkten meine ein Leben lang in mir ruhenden Zweifel, ob die bisherige Sicht der Geschichte, vor allem der Antike und des Mittelalters, gelinde ausgedrückt nicht korrekturbedürftig sei. Ralph Davidson hat es gewagt, als einer der ersten historische Tabus der europäischen Kulturgeschichte in Frage zu stellen. Davidson hat eine fast unlösbare, aber absolut notwendige Aufgabe in Angriff genommen und dabei tatsächlich eine Reihe von historischen Tabus gebrochen. Es ist zu hoffen, dass die konventionellen Geschichtsforscher durch seine Thesen provoziert werden, sich sachlich mit seinen Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen.

Sehr verdienstvoll ist es, dass Davidson die von den Historikern so sträflich vernachlässigte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in ausgeprägter Kombination mit den historischen Hilfswissenschaften (Epigraphik , Paläographie, Genealogie etc.) wesentlich mehr als üblich für sein Werk heranzieht und damit zu Fragestellungen kommt, die beachtenswert neue Ansätze dafür liefern, wie Feudalismus, Industrialismus, Kapitalismus und überhaupt die europäische Zivilisation entstanden sind und sich weiter entwickelt haben.

Allzu viele Historiker sind m. E. nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie sind zu sehr auf ein enges Fachgebiet begrenzt und nehmen allzu leichtgläubig historische Überlieferungen kommentarlos zur Kenntnis. Hinzu kommt noch, dass es den meisten Historikern an umfassenden und fundierten Sprachkenntnissen fehlt. Es gibt kaum einen deutschen Historiker, der z. B. mit der für die Antike so wichtigen hebräischen Sprache vertraut ist. Ohne die Einbeziehung hebräisch-jüdischer Quellen ergibt sich „ein unvollständiges Bild der jüdischen Kultur in Deutschland“ und wohl auch in Europa. Viele Historiker verfügen auch nicht über solide Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen, von slawischen Sprachen ganz zu schweigen.

Wirklich neue Erkenntnisse zu den Fundamenten der europäischen Kultur sind nur zu erwarten, wenn Historiker verschiedener Epochen und Fachgebiete bereit sind, mit Wissenschaftlern anderer Fachgebiete zusammenzuarbeiten. Es wäre fürs Erste aber schon ein großer Fortschritt, wenn die zweifelhaften, unsicheren und vielfach gefälschten Quellen der Antike und des Mittelalters mit den Methoden, Kenntnissen und Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts völlig neu analysiert würden.

Es ist Ralph Davidson zu danken, solch einen neuen Anfang versucht zu haben. Sein zentrales Anliegen ist es, die wesentlichen Faktoren des europäischen Zivilisationsprozesses zu finden. Dazu sammelt er zunächst einmal die harten Fakten. Das zentrale Ergebnis seiner umfassenden Faktensammlung und Fakteninterpretation: Die Grundlage der europäischen Zivilisation scheint weder die griechisch–römische Antike noch das „aufsteigende Bürgertum“ des Mittelalters und der Neuzeit zu sein, sondern das Juden-Christentum. Dieses hat nicht primär als Religion, sondern als kulturelle Institution Entwicklung und Aufstieg Europas angestoßen und gefördert. Diese Erkenntnis von Davidson, welcher sich auch Landau und Eisler angeschlossen haben, ist ein völlig neuer Denk- und Forschungsansatz in der europäischen Geschichtsforschung.